Die „Zwischenkriegszeit“ vom Frieden von Riga (1921)
bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges (1939)
Polen war mit den enormen Landgewinnen aus dem Krieg gegen die Bolschewiki territorial saturiert hervor gegangen. Piłsudski, der das Land nach einem Militärputsch im Jahre 1926 de facto diktatorisch regierte, schloss 1932 einen polnisch-sowjetischen und 1934 einen deutsch-polnischen Nichtangriffspakt, um Polen nach außen zu sichern.
Aber im Inneren blieben viele Probleme ungelöst. Das betraf vor allem auch den Umgang mit der nicht-polnischen Bevölkerung, insbesondere in den westlichen und östlichen Grenzregionen. In der Literatur findet man unterschiedliche Zahlenangaben zur ethnischen Zusammensetzung der damaligen Bevölkerung in den nun weitgehend zu Polen gehörenden Regionen Galizien und Wolhynien. Übereinstimmung herrscht jedoch in der Feststellung, dass hier mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung – nach Osten hin zunehmend - Ruthenen/ Ukrainer waren, die mehrheitlich auf dem Lande lebten. Etwa 10% der Bevölkerung waren Juden. In den Städten überwog meist der polnische Bevölkerungsanteil.
Die Bildung eines eigenen ukrainischen Staates war gescheitert und die ruthenischen/ ukrainischen Eliten empfanden nunmehr die polnische Herrschaft als Okkupation. Die polnische Republik verabschiedete zwar im Jahre 1922 ein Gesetz über die Teilautonomie Ostgaliziens, es wurde jedoch nie umgesetzt.
Bereits 1920, nach der Niederlage der Westukrainischen Volksrepublik, in der Zeit des polnisch-bolschwistischen Krieges hatte Oberst Jewhen Konowalez, im Ersten Weltkrieg Kommandant der Sič-Schützen aus der Bukowina, aus demobilisierten Soldaten der Westukrainischen Volksrepublik die „Ukrainische Verteidigungsorganisation“ („Ukrains'ka Vijs'kova Orhanizacija“ [UVO]) gegründet, die nunmehr im Untergrund gegen den polnischen Staat in Ostgalizien kämpfte. Sie verübte Sabotageakte und Überfälle auf Post und Eisenbahn sowie Angriffe auf polnische Landgüter. Die von Konowalez geleitete UVO-Zelle in Lwów (Lviv) wurde jedoch im Dezember 1920 von der polnischen Polizei zerschlagen und Konowalez musste ins Ausland fliehen.
Ein 1921 versuchtes Attentat ukrainischer Nationalisten auf Jozef Piłsudski scheiterte. In den Folgejahren versuchte der polnische Staat mit „Pazifizierungsaktionen“ und einer chauvinistischen Nationalisierungspolitik (Angriffen von Armee und Polizei auf ukrainische Dörfer, Verhaftungen ukrainischer Politiker und vermeintlicher UVO-Anhänger, Polonisierung des Bildungswesens, Ansiedlung polnischer Bauern in ukrainisch bewohnten Gebieten, Entlassung von Ukrainern aus dem polnischen Staatsdienst, Katholisierung oder Zerstörung orthodoxer Kirchen...) die ukrainische Nationalbewegung zu zerstören. Dadurch kam es zu einer weiteren Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Aktivisten einer ukrainischen Unabhängigkeit und Polen.
In Wien entstand schließlich am 3. Februar 1929 aus einem Zusammenschluss der UVO mit dem seit 1926 in Galizien aktiven „Bund der Ukrainischen Nationalistischen Jugend“, sowie verschiedenen nationalistischen Studentenorganisationen die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Ihr Vorsitzender wurde Jewhen Konowalez. Ihr Ziel war die Unabhängigkeit der Ukraine.
Zunächst versuchte die OUN, den polnischen Staat zu destabilisieren und intensivierte ihre Guerillatätigkeit in Polen. Die Welle gegenseitiger Gewaltanwendungen erreichte in den Jahren 1931/32 ihren vorläufigen Höhepunkt.
1938 wurde Jewhen Konowalez von einem sowjetischen Agenten ermordet. Zum neuen Vorsitzenden wurde Andrij Melnyk gewählt, ein Kampfgenosse Konowalez' aus der Zeit der Westukrainischen Volksrepublik.
In dieser Zeit entwickelten sich die programmatischen Inhalte der OUN weiter, welche die Einheit und Unabhängigkeit der Ukraine als oberstes, kompromisslos anzustrebendes Ziel deklarierten und in diesem Sinne für sämtliche Bündnisse offen waren, die sich gegen die Sowjetunion richteten.
Nach außen hin hatte bereits die Führung der UVO über geflüchtete Offiziere Kontakte in die Tschechoslowakei, nach Litauen und Deutschland aufgebaut. Die Deutsche Reichswehr führte schon 1923 geheime Ausbildungskurse für die UVO in München durch. Die OUN baute nunmehr diese Kontakte gegen Ende der dreißiger Jahre vor allem nach Deutschland aus.
Diese Ereignisse werden sowohl im jeweils eigenen Lande als auch – und vor allem – zwischen Polen und der Ukraine nach wie vor sehr kontrovers erörtert und dargestellt. Die Auseinandersetzungen mit den Konflikten zwischen Polen und Ukrainern in den ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind bis heute sehr mit Emotionen behaftet. Das hat in hohem Maße seine Ursache in den Tabus, mit denen die sozialistischen Staaten manche Kapitel der polnischen und ukrainischen Geschichte belegten. Im Falle der Ukraine wurden alle Hinweise auf ukrainische nationale Befreiungskämpfe aus dem öffentlichen Bewusstsein entfernt. Im Falle Polens ging es darum, die historische Erinnerung der Polen an den Nachkriegsgrenzen des polnischen Staates zu orientieren und den ehemaligen polnischen Osten damit faktisch auszugrenzen. So waren im gesamten halben Nachkriegsjahrhundert die historischen polnisch-ukrainischen Konflikte und die öffentliche Erinnerung daran „eingefroren“. Demzufolge sind die alten Streitigkeiten mit neuer Kraft zurückgekehrt, als Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre die Sowjetunion und mit ihr das sozialistische Weltsystem zusammenbrachen und die Beschränkungen der Meinungsfreiheit verschwanden.
Es konnte nicht Anliegen und Ziel des Projektes sein, im Sinne einer „Wahrheitsfindung“ die Orte zu dokumentieren, an denen im hier dargestellten Zeitraum themenrelevante Ereignisse stattgefunden haben, das tatsächliche Geschehen zu recherchieren und zu dokumentieren. Wir haben in der heutigen Ukraine das Bemühen wahrgenommen, bei der öffentlich sichtbaren Aufarbeitung dieser Geschichte vor allem der Repressionen zu gedenken, welchen die ukrainische Nationalbewegung von Seiten des polnischen Staates ausgesetzt war. Einige Beispiele sind:
In der Grodzkastraße in Lwów (Lviv) befand sich in der Zwischenkriegszeit ein polnisches Gefängnis. Drei Mitglieder der Pfadfinderbewegung Plast/OUN waren hier inhaftiert, denen am 16. Juni 1939 als einzigen Häftlingen die Flucht gelungen ist. Daran erinnert heute eine Gedenktafel an der Außenfassade des Gebäudes. Sie trägt die Inschrift: „Die Freiheit hat keinen Preis“
(Quelle der Abb. rechts: http://www.liveinternet.ru/users/venividi/)
Im Jahre 1932 verübten vier OUN-Mitglieder einen Überfall auf das Postamt von Gródek Jagielloński (Horodok), um Geld für Waffenkauf und Druckerzeugnisse zu erbeuten. Die Post war streng von polnischer Polizei bewacht und zwei der Posträuber wurden noch während des Überfalls erschossen. Die anderen beiden konnten eine geringe Geldsumme erbeuten und an ihre Organisation übergeben. Sie wurden später jedoch verhaftet und nach Rivne überstellt. Dort wurden sie zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sie werden heute in Ostgalizien als Helden des Kampfes um Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine wahrgenommen. Das Denkmal wurde 2003 errichtet.
Seit 1921 war die Stadt Rivne wieder polnisch, bis sie mit der erneuten Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu den sowjetisch besetzten polnischen Ostgebieten gehörte.
Die Gedenktafel erinnert an den “Prozess 22” zwischen dem 22. und 26. Mai 1939, bei dem 22 Ukrainer der „Organisation Ukrainischer Nationalisten'“ (OUN) in den letzten Tagen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges von der polnischen Justiz hingerichtet wurden.
Nachdem Polen den östlichen, größeren Teil der Ukraine den Bolschewiki überlassen musste (wozu auch der Osten Wolhyniens gehörte), konnten diese dort ihre Herrschaft weiter festigen. Die Sowjetukraine wurde 1922 eines der Gründungsmitglieder der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken). Die KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) etablierte sich auch in der Ukraine zur beherrschenden Staatspartei bis zur Auflösung der UdSSR im Jahre 1991. Die ukrainische Nationalbewegung wurde in diesem Landesteil durch die Ergebnisse des Friedens von Riga beendet.
Die Zwischenkriegszeit in der sowjetischen Ukraine wurde durch die allgemeinen Entwicklungen in der zentralistisch regierten Sowjetunion bestimmt. Die UdSSR sollte sich in relativ kurzer Zeit zu einem modernen Industriestaat entwickeln. Mit zahlreichen Maßnahmen sollten die Grundlagen für eine kommunistische, klassenlose Gesellschaft über den Weg einer Diktatur des Proletariats gelegt werden.
An diese frühen Jahre in der Sowjetukraine erinnern das Denkmal und das Museum, die zu Ehren des Schriftstellers Nikolai Ostrowski in Schepetowka (Schepvivka, zwischen Rivne und Novohrad-Wolhynskij ca. 50 km südlich der E40 gelegen)) errichtet wurden, wo der Autor seine Kindheit und Jugend verlebte. Das erste Museum wurde 1946 eröffnet, das Denkmal entstand 1966, der heutige Museumsbau stammt aus dem Jahre 1979.
In seinem Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ beschrieb Ostrowski aus kommunistischer Sicht die ersten Jahrzehnte des Aufbaus der Sowjetukraine. Sein Romanheld Pawel Kortschagin wurde für Generationen junger Menschen in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern zum Sinnbild des unbeugsamen, tapferen Kämpfers für die Revolution.
(Foto: Quelle commons.wikimedia)
"Gefallen Ihnen denn die Komsomolzen nicht?" fragte Lida den Fuhrmann scherzend.
Dieser zupfte sich am Bärtchen und erwiderte langsam:
"Nein, was denn. Solange man jung ist, kann man schon mal über die Stränge hauen, ein Stück aufführen oder so was Ähnliches. Ich sehe mir selbst gern eine Komödie an, wenn es etwas Rechtes ist. Zuerst haben wir geglaubt, dass die Jungen Unfug treiben würden, es ist aber ganz anders gekommen. Wie die Leute sagen, treten sie gegen Sauferei, Schlägerei und ähnliches scharf auf. Sie sind alle mehr fürs Lernen. Aber sie greifen Gott an, und aus der Kirche wollen sie einen Klub machen. Das ist nicht recht, deshalb sind die Alten den Komsomolzen böse und nehmen es ihnen übel. Aber sonst? Falsch ist es jedoch, dass sie nur haltloses Volk aufnehmen, wie Bauernknechte oder 'runtergekommene Bauern. Söhne von Großbauern lassen sie nicht herein."
(Ostrowski, Nikolaj: „Wie der Stahl gehärtet wurde“, S. 344)
Der Osten Wolhyniens, der seit dem Frieden von Riga zur Sowjetukraine gehörte, war zum westlichen Grenzgebiet der Sowjetunion geworden. Die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts waren in vielen europäischen Ländern von Kriegsvorbereitungen geprägt.
Zahlreiche polnische und deutsche Bürger in der Nähe der Westgrenze der ukrainischen Sowjetrepublik wurden bereits in den 1930er Jahren nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Sie galten für den Kriegsfall als potenzielle Kollaborateure der vermuteten Kriegsgegner. Im öffentlichen Raum haben wir für diese Vorgänge keine Erinnerungsorte gefunden.Jedoch gibt es Spuren anderer kriegsvorbereitender Maßnahmen in der Region:
Novohrad-Wolhynskyij war von 1920 bis 1939 sowjetische Grenzstadt zu Polen. Dies führte zu einer verstärkten Truppenkonzentration in dieser Gegend. Novohrad-Wolhynskyij wurde zu einer wichtigen Garnisonsstadt mit mehreren Armeestandorten. Am östlichen Ufer des Slutsch wurden in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von Häftlingen in einer Bauzeit von drei bis fünf Jahren drei hintereinander liegende Verteidigungslinien mit etwa 800 Bunkern – die „Stalin-Linie“ errichtet. Nach dem Vorrücken der Roten Armee im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes verschob sich die sowjetische Grenze um mehrere hundert Kilometer nach Westen. Die „Stalin-Linie“ wurde deshalb teilweise entwaffnet und durch die „Molotow-Linie“ ersetzt. Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden die Bunker in kurzer Zeit überwältigt und meist zerstört. Seither stehen sie unverändert am Flussufer oder in den Wäldern, die inzwischen gewachsen sind. An einigen Bunkern sind Gedenktafeln angebracht, die auf besondere Ereignisse bei der Eroberung durch die Deutsche Wehrmacht hinweisen.
Andere themenrelevante Ereignisse knüpfen sich an die innenpolitische Entwicklung: Im Interesse des Aufbaus einer kommunistischen Gesellschaft erfolgten auch im Osten Wolhyniens zwischen 1929 und 1932 die „Entkulakisierung“ und die Kollektivierung der Landwirtschaft. Neben der Ermordung, Inhaftierung oder Zwangsumsiedlung hunderttausender als wohlhabend geltender Bauern führte der häufig zwangsweise Zusammenschluss landwirtschaftlicher Betriebe zu Kolchosen und eine inkompetente Landwirtschaftspolitik zu mehreren Bauernaufständen, die mit überlegener militärischer Gewalt durch die Rote Armee niedergeschlagen wurden. Besonders Bauern aus der westlichen Sowjetukraine, die oft noch Bindungen nach Polen bzw. dem nun polnischen Teil Wolhyniens hatten, waren schweren Repressalien ausgesetzt. Viele der ersten Insassen der Gulags waren neben Balten Ukrainer. Erst die Hungersnot von 1933 konnte den letzten Widerstand gegen die Sowjetisierung brechen.
In den Jahren 1932/33 wütete in mehreren Sowjetrepubliken, besonders aber in der Ukraine, eine Hungersnot (Holodomor) von unvorstellbarem Ausmaß. Neuere westliche Forschungen gehen inzwischen – nicht zuletzt nach der Öffnung vieler Archive in den 1990er Jahren – davon aus, dass der Holodomor als eine Verkettung von Folgen und Nebenfolgen äußerst rücksichtsloser und brutaler Politik der Zwangskollektivierung, Herrschaftskonsolidierung und Widerstandsunterdrückung sowie wetterbedingter Ernteausfälle erklärt werden kann. Laut Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die im November 2008 veröffentlicht wurden, betrug die Opferzahl in der Ukraine ca. 3,5 Millionen Menschen. Die Botschaft der Ukraine in der Republik Österreich ging in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 2006 von 7 Millionen ukrainischen Opfern aus. Andere Quellen nennen Opferzahlen von bis zu 14,5 Millionen Menschen.
Auf dem Friedhof in Novohrad-Wolynskyj wurde vor einigen Jahren ein symbolisches Ehrengrab für die Opfer des Holodomor aus der Stadt und ihrer Umgebung errichtet.
In der Kirche St. Peter und Paul in Rivne, das damals zu Polen gehörte, erinnert heute ein Gedenkstein an die Opfer des Holodomor in der Sowjetukraine. Die Kirche wurde 1920 als polnische Militärkirche gegründet und 1935 in ihrer jetzigen Gestalt geweiht. In sowjetischer Zeit war sie geschlossen und diente als Sporthalle. Im Park vor der Kirche wurden in den letzten Jahren ein Kreuzweg und zahlreiche Gedenktafeln an polnische und ukrainische Opfer der Martyrien des 20. Jahrhunderts errichtet.