Am 22. Juni 1941 übergab der deutsche Botschafter in Moskau um 4.00 Uhr früh ein „Memorandum“ an den sowjetischen Außenminister, das faktisch die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die Sowjetunion bedeutete.
Einen Blick auf den einmaligen Charakter dieses Krieges wirft der Historiker Prof. Dr. Siegfried Wolf. Er hat für das Projekt einen Text geschrieben, in dem am Beispiel eines Abschnittes der E40 deutlich wird, wie der Krieg im Alltag sichtbar wurde und wie er von Anfang an von deutscher Seite aus als Vernichtungskrieg – u.a. gegen die jüdische Bevölkerung – geplant und durchgeführt wurde.
DURCHGANGSSTR. IV von Siegfried Wolf
Kulturgeschichtlich mag es einen Unterschied geben zwischen den ost- und den westeuropäischen Straßen:
War in Westmitteleuropa - abgesehen von unwegsamen Gebirgsregionen - nahezu jeder bewohnte Ort
schon im Mittelalter auf einem Wege erreichbar, war dies in Osteuropa oder in Eurasien selbst in der Neuzeit
bei weitem noch nicht der Fall. Bedingt durch die riesigen Entfernungen und die dünne Besiedlung gab es
eine Vielzahl autonomer Straßennetze ohne überregionale Anbindung. Noch heute gibt es sibirische
Großstädte ohne Straßenverbindung zum "großen Land". In den endlosen Waldmassiven Belorußlands oder
in den Sumpfgebieten der Polessje verloren sich zahllose Dörfer, Weiler oder Vorwerke verbindungslos in
der Fläche.
Angesichts dieser Verkehrssituation gewannen die wenigen Fernstraßen eine außerordentliche Bedeutung -
ähnlich den späteren Haupteisenbahnlinien. Es scheint so, dass in der Ost-Westrichtung vor allem zwei
Verbindungen von Belang waren - die Seidenstraße und die VIA REGIA - wenn man vom Pfad absieht, der
von Moskau in die sibirische Katorga führte (Es gab zwar am Beginn des 20.Jahrhunderts einige
Automobilpioniere, die den Kontinent von Sibirien bis Petersburg durchquerten, aber das war ein Abenteuer
und kein Straßenverkehr).
Die Fernstraßen waren Zivilisationsschneisen. Nicht nur Waren, sondern auch Menschen und Ideen wurden
transportiert. Naturgemäß wuchs die Bedeutung der Überlandstraßen mit ihrer Seltenheit, sodass die
Entwicklung ihres Umlandes mehr von ihrer Funktionstüchtigkeit abhing als umgekehrt.
Naturgemäß hatte die Fernstraße schon seit der Römerzeit noch eine weitere Hauptfunktion - als
militärstrategische Verbindungslinie. Bedingt durch die Wegelosigkeit der Fläche, konzentrierte sich die
Aufmerksamkeit der Militärs besonders in Osteuropa auf die wenigen Fernstraßen. Ihr "Besitz" war von
strategischer Bedeutung. Besonders für die, die vom Westen in Russland einfielen. Tartaren und Mongolen
brauchten keine Straßen. Der Heerwurm Napoleons jedoch, der sich auf Moskau zubewegte, war auf
Straßen angewiesen (was seine Verletzbarkeit steigerte).
Die Ukraine war über die Jahrhunderte vor allem Peripherie - des Zarenreiches, der Habsburger Monarchie
oder Polens. Die ober- und unterirdischen Reichtümer der Ukraine waren die Objekte der Begehrlichkeit
ausländischer Eroberer.
Ein Straßensystem von außerordentlicher strategischer Bedeutung war in der Zeit von 1941 bis 1944 die
Magistrale, die von Berlin - Lviv über Ternopil, Vinnycja, Dnipropetrovsk, Stalino (Donezk) bis nach Rostov
am Don führte - in der Wehrmachtsterminologie "Durchgangsstraße IV", "Rollbahn Süd" oder "Straße der
SS" genannt. Identisch mit der VIA REGIA dürfte die Streckenführung nur teilweise sein; war doch die
Trassenführung vom Frontverlauf abhängig.
Dieses StraßenSYSTEM war vor allem für die Heeresgruppe Süd der Wehrmacht von außerordentlicher
Bedeutung.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion war die Straße sowohl Panzerrollbahn der Wehrmacht als auch
Rückzugsstraße der Roten Armee. So im Sommer 1941 und im Sommer 1942. Danach umgekehrt. In der
sowjetischen Kriegsliteratur spielt die Rollbahn eine merkwürdig marginale Rolle. Das scheint darauf
zurückzuführen sein, dass die Rote Armee anfänglich vor allem eine infanteristische mit geringer
Motorisierung war. Und die Infanterie hat die deckungslose Straße schon deshalb gemieden, weil die
Deutschen die Lufthoheit hatten. Und der T34 brauchte nicht unbedingt eine Straße - im Unterschied zum
deutschen Panzerlein III, der im Gelände leicht umkippte.
Die Durchgangsstraße wurde, ähnlich wie die Haupteisenbahnlinien, rigoros für den Fahrzeugverkehr
freigehalten und - so gut es gehen mochte - streng überwacht. Deshalb fanden die anderen vielfältigen
Bewegungen meist außerhalb der Trasse statt - so die sowjetischen Kriegsgefangenenkolonnen oder -
etwas später - die deutschen. Viele - auch bewaffnete – "Fußgänger", waren deshalb tunlichst bestrebt, die
gefährliche Straße zu meiden. So die sowjetischen und die nationlukrainischen Partisanen, in der
Westukraine die polnischen Bauern-Selbstschutzbataillone, Verbände der AK oder der AL, jüdische
Flüchtlinge, die sich dem Zugriff der SS zu entziehen suchten, polnische Vertriebene auf der Flucht vor
ukrainischen Eliminatoren, Deserteuere der Roten Armee, versprengte deutsche oder sowjetische Soldaten,
kriminelle Banditen, "fremdvölkische" Kollaborateure auf der Flucht vor SMERSCH (militärischer
Nachrichtendienst der Sowjetunion zur Zeit des Zweiten Weltkriegs), zurückgelassene deutsche Spione und
Funker,.. und arglose Pilzesucher und Kuhhirten aus der einheimischen Bevölkerung.
Durch alle diese Zeitgenossen zog die Straße der SS eine messerscharfe Linie, ratsam war es, diese Linie
zu meiden. Diese Straße schied Hüben und Drüben. Musste man die Seiten wechseln, dann nachts und
schnell, schnell.
Das alles unterschied die Durchgangsstraße IV nicht von anderen Kriegsstraßen im Osten (unter
Verwendung von Forschungsergebnissen Tanja Penters und Hermann Kaienburgs).
Ein anderes Prädikat jedoch macht die Beispiellosigkeit der Straße aus - ihre Einbeziehung in den
Holocaust: Eichmann fasste im Protokoll der Wannseekonferenz am 30.Januar 1942 zusammen, wie die
"Endlösung der Judenfrage" im Osten aussehen sollte: "Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der
Endlösung der Judenfrage die Juden in geeigneter Weise zum Arbeitseinsatz kommen. In großen
Arbeitskolonnen ... werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei
zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird".
Diese Vernichtungsstrategie wurde auf geradezu paradigmatische Weise an der Straße der SS exekutiert.
Diese Pervertierung der Straße dominiert das Andenken an die VIA REGIA - nicht Königsweg und
Minnesang, sondern an einen Massenmord. Über letztlich insgesamt 1200 Kilometer haben wir es mit einem
Tatort und einem Friedhof zu tun. An der Durchgangsstraße IV waren zeitweise 50.000 Juden und
Kriegsgefangene eingesetzt, wobei der relative Anteil der Kriegsgefangenen nach "Verbrauch" nicht ersetzt
werden konnte - inzwischen gerieten die Deutschen selbst massenhaft in Kriegsgefangenschaft.
Für die Juden wurde die Straße zum Experimentierfeld der "Endlösung", es galt die "Vernichtung durch
Arbeit". So meinte der Höhere Polizei-und SS-Führer Galizien, Fritz Katzmann, es sei völlig gleichgültig, ob
auf jedem Kilometer tausend oder zehntausend Juden bleiben. Arbeitsunfähige oder Kranke wurden sofort
erschossen. Auf diese Weise lag die durchschnittliche Lebensdauer eines jüdischen Zwangsarbeiters
zwischen drei und sechs Monaten.
Den Befehl zum Bau der Durchgangsstraße IV erließ Heinrich Himmler im Februar 1942. Schon vorher
waren allerdings an der "Rollbahn" jüdische Zwangsarbeiter eingesetzt - immer der Ostverschiebung der
Front folgend. Bis Mitte Oktober waren an der Teilstrecke Przemyśl bis Tarnopol sechs jüdische
Zwangsarbeitslager eingerichtet, die nicht der Zivilverwaltung, sondern dem Stab der SS direkt unterstanden.
Bis zur Jahreswende 1941/42 kamen noch weitere sechs Lager hinzu. Insgesamt konnten allein in der
Ukraine ungefähr zwanzig derartige Lager nachgewiesen werden Dazu kommen noch die galizischen. Jedes
Lager umfasste ungefähr 600 Zwangsarbeiter. Sie befanden sich in der Nähe der Trasse und von
Steinbrüchen, in denen Straßenmaterial gebrochen wurde. Die - von Katzmann erwünschte - Sterblichkeit
war außerordentlich hoch. Sandkühler gelangte zu der Berechnung, dass die Mortalität in den
Zwangsarbeitslagern Galiziens wesentlich höher lag als in den "offiziellen" Konzentrationslagern. Im
Unterschied zu dem versiegenden Nachschub an sowjetischen Kriegsgefangenen war an jüdischen
Zwangsarbeitern kein Mangel. Waren sie aufgebraucht, wurden sie ersetzt - aus dem Territorium, aber auch
aus Transnistrien, oder gar aus dem "Altreich". Die Arbeitslager "wanderten" - war ein Streckenabschnitt
fertiggestellt, wurde das entsprechende Lager aufgelöst und jüdische Arbeitskräfte aus dem Umfeld des
neuen Standortes zugeführt.
Wie generell der Holocaust war auch die Vernichtung durch Arbeit an jener Straße ein internationales
Gemeinschaftswerk der Antisemiten unter deutscher Führung. "Fremdvölkische" "Schutzmannschaften" aus
ukrainischen, baltischen , kosakischen und kaukasischen Kollaborateuren bewachten die Zwangsarbeiter.
Die üblichen Gewaltorgien jener Büttel sind auch hier zu finden.
Wie im Dritten Reich üblich, gab es auch bei der Führung der Zwangsarbeit ein ziemliches administratives
Durcheinander - bedingt durch die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen "Bauträger". Aus den
verfügbaren Quellen lässt sich schließen, dass die SS die Gesamtleitung des Projektes nicht aus der Hand
gab - war doch damit die Intention der Architekten der "Endlösung" unmittelbar verbunden. Mit diesem Ziel
wurde vom HSSPF (Höhere SS- und Polizeiführer) Ukraine und Russland-Süd ein Sonderstab eingerichtet
mit Sitz in Dnepropetrowsk Ihm unterstellt waren in Winniza, Kirowograd, Kriwoi-Rog und Stalino vier
Oberbauleitungen.
Die fachliche und technische Abwicklung hingegen wurde in die Hände der Organisation Todt gelegt. Die
Oberbauabschnittsleitungen der OT befanden sich in denselben Orten wie die der SS. Es liegt auf der Hand,
dass bald die üblichen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den beiden Leitungsebenen eintreten mussten -
was die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter weiter verschärfte.
Mit der OT gewinnt das Vernichtungsprojekt eine neue, gleichsam zivile Dimension. Die Führer der OT
waren in der Regel technisches Fachpersonal für Hoch-, Tief- und Brückenbau. Aber die Intention der SS
reichte noch tiefer in den Arbeitsalltag der Deutschen: Private Bauunternehmungen aus dem Reich wurden
mit der Bauabwicklung der Projekte beauftragt. Da ergibt sich natürlich der interessante Nebenaspekt des
Problems, wie die Firmen, so sie noch existieren, mit diesem IHREM Erbe heute umgehen.Obwohl bislang
nur wenig Dokumente aus jener Zeit auf uns gekommen sind, konnte Kaienburg eine Anzahl jener Baufirmen
identifizieren. Nur einige seien genannt: Dohrmann (Remagen), Teeras (München), Fix (Bad Neunahr), Stöhr
KG (München), Horst&Jüssen (Sinzig/Rhein)...
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion hatte am 22. Juni bereits kurz nach Mitternacht – mehrere Stunden vor der Kriegserklärung - begonnen, indem deutsche Flugzeuge sowjetische Städte bombardierten. Die Sowjetunion hatte zwar intensive Kriegsvorbereitungen betrieben, verfügte aber über keine aktuelle Verteidigungsstrategie.
Die Hoffnung der deutschen Heeresleitung, die sowjetischen Truppen bereits kurz hinter der Westgrenze des Teilungsgebietes vernichtend zu schlagen und dadurch ohne großen Widerstand rasch ins Landesinnere vorstoßen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Die Rote Armee, die auf diesen Überfall nicht vorbereitet war, zog sich zunächst in panischer Eile ins Hinterland zurück. In der Hast des Rückzugs wurden abertausende politische Gefangene ermordet, die als potenzielle Verbündete der nunmehr feindlichen deutschen Kriegspartei angesehen wurden.
1937 war unter polnischer Herrschaft in Dubno ein neues Gefängnis gebaut worden. Hier wurden während der Besetzung der Stadt durch die Rote Armee ukrainische Nationalisten inhaftiert, die beim Rückzug erschossen wurden. Die Deutschen haben die Ermordeten aus den Gräbern geholt und Fotos in europäischen Zeitungen veröffentlicht.
Das Gebäude dient heute als Jugendgefängnis. An seiner Außenmauer ist eine Gedenktafel für die Ermordeten angebracht.
An der Außenmauer der St. Nikolauskirche in Dubno wurden während des sowjetischen Rückzugs im Sommer 1941 ebenfalls zahlreiche Gefangene erschossen, deren tote Körper in die Katakomben unter der Kirche geworfen wurden. An der Außenmauer, die noch immer die Einschusslöcher der Erschießungsaktionen aufweist und im Gewölbekeller der Kirche sind heute Gedenktafeln angebracht, die an die Opfer der Sowjetherrschaft erinnern.
Eines der ersten Ziele der deutschen Luftwaffe auf die sowjetisch besetzten Gebiete Ostpolens war die Stadt Lwow (Lviv). Sowjetische Stäbe und Dienststellen begannen daraufhin auch hier, hastig ihren Rückzug vorzubereiten.
In den Gefängnissen der Stadt waren antikommunistische Polen und Ukrainer von den Sowjets inhaftiert worden. Sie sollten ins Hinterland transportiert werden. In diesem allgemeinen Durcheinander versuchten ukrainische Nationalisten am 25. Juni 1941, drei Tage nach dem Luftangriff, sich gegen die abziehenden Sowjets zu erheben, um die politischen Gefangenen zu retten.
Der Aufstand misslang, und die Sowjets liquidierten am 27. und 28. Juni etwa 2.400 Häftlinge, die der Aufstand hatte befreien sollen, durch Genickschüsse.
Dieses Ereignis war der Auslöser für das „Massaker von Lemberg“, das bis heute als eines der
grausamsten Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges
gilt. Es war im Rahmen des Projektes nicht möglich, Einvernehmen zwischen den
unterschiedlichen Bewertungen dieser Vorkommnisse zu erzielen.
Wir haben uns von deutscher Seite aus entschlossen, an diese Stelle einen Text des Historikers
Hannes Heer zu stellen. Hannes Heer war von 1993 bis 1999 im Auftrag des Hamburger
Instituts für Sozialforschung Leiter der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der
Wehrmacht 1941 bis 1944“. Wir sind der Auffassung, dass der folgende Text die Komplexität der
Ursachen für das damalige Geschehen, seine Abläufe und nachfolgende Entwicklungen sehr
treffsicher zum Ausdruck bringt.
Blutige Ouvertüre
Lemberg, 30. Juni 1941: Mit dem Einmarsch der Wehrmachttruppen beginnt der Judenmord
von Hannes Heer
Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 überschreiten die Truppen der deutschen Wehrmacht ohne
Kriegserklärung die Grenzen der Sowjetunion - drei Millionen Mann unter Waffen. Den Gegner
überrumpelnd, sollen die Armeen ohne Halt weit ins Innere des Landes vordringen, die gegnerischen Kräfte
durch großräumige Kesselschlachten möglichst schon in Grenznähe vernichten und die Herrschaft des
Bolschewismus unter der Wirkung dieses Schocks zum Einsturz bringen. Den Hauptstoß, mit 60 Infanterie-
und Panzerdivisionen, hat die Heeresgruppe Mitte zu führen: Moskau soll als Erstes fallen. Mit weit
geringeren Kräften ausgestattet, würden die Heeresgruppen Nord und Süd Leningrad und Kiew, die beiden
anderen Metropolen des Sowjetreichs, in raschem Vorstoß einnehmen. Doch der Plan misslingt.
Im Südabschnitt kommt der Blitzkrieg schon in den ersten Tagen zum Stehen. Durch geschickte
Verteidigung, vor allem im Raum um die galizische Stadt Lemberg, wird die Absicht der Deutschen vereitelt,
die sowjetischen Verbände schon westlich des Dnjepr auszuschalten. Erst als die Rote Armee am 27. Juni
überraschend zurückweicht, kann der Vormarsch fortgesetzt werden. Der Angriff auf Lemberg ist für den 30.
Juni befohlen.
Das Zentrum Galiziens galt seit den Zeiten Habsburgs als östlichste Stadt Mitteleuropas - ein Ort vieler
Kulturen und Konfessionen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zerbrach diese glückliche
Symbiose; Lemberg verwandelte sich in einen Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen der polnischen
Mehrheit und den nach Unabhängigkeit strebenden Ukrainern. Die Leidtragenden waren die Juden: Sie
wurden von beiden Seiten verdächtigt, national unzuverlässig zu sein. Ihre Lage verdüsterte sich, als
Galizien durch den Hitler-Stalin-Pakt im Herbst 1939 sowjetisch wurde. Obwohl die Besatzer engagierte
Zionisten, wohlhabende jüdische Bürger und die zahlreichen Flüchtlinge aus dem deutsch besetzten Polen
verfolgten und deportierten, sind die Juden für viele ihrer christlichen Nachbarn Sympathisanten und
Kollaborateure der Kommunisten. Als die deutschen Truppen sich zum Angriff auf Lemberg anschicken,
leben dort etwa 160 000 Polen, 150 000 Juden und 50 000 Ukrainer.
Antreten zum Spießrutenlaufen
In den ersten Stunden des 30. Juni besetzen Einheiten der 1. Gebirgsdivision und des "Lehrregiments z. b.
V. 800", dem ein Bataillon Ukrainer angegliedert ist, die Stadt, ohne auf Widerstand zu stoßen; um 4. 20 Uhr
weht von Lembergs Zitadelle die Reichskriegsflagge. Am Morgen um 8.30 Uhr nimmt Oberst Karl
Wintergerst, Kommandeur des Artilleriekommandos 132, seine Tätigkeit als Stadtkommandant auf.
In den drei Gefängnissen Lembergs hat das Bataillon 800 derweil einen grausigen Fund gemacht: Alle
Insassen sind ermordet. Die ursprüngliche Absicht des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, die 4000
Häftlinge zu evakuieren, war durch den raschen Vormarsch der deutschen Truppen, fehlende Transportmittel
und einen Aufstand ukrainischer Nationalisten vereitelt worden. Die Leichen liegen in den Zellen
übereinander gestapelt oder in Massengräbern notdürftig verscharrt. Todesursache: Genickschuss. Einige
der Toten tragen Zeichen der Folter und sind, wie die herbeibestellten Gerichtsmediziner gleich feststellen,
seltsamerweise verstümmelt.
Wenige Stunden später ist Lemberg zum Schauplatz wüster Ausschreitungen geworden. Das
Kriegstagebuch des 49. Armeekorps notiert: "Unter der Bevölkerung herrscht über die Schandtaten der
Bolschewisten rasende Erbitterung, die sich gegenüber den in der Stadt lebenden Juden, die mit den
Bolschewisten zusammengearbeitet haben, Luft macht." Und ein Offizier der Stadtkommandantur schreibt
über den ersten Tag der Besetzung an seine Frau: "Juden werden erschlagen - leichte Pogromstimmung [,]
so unter den Ukrainern."
Doch ganz so "spontan", als Akt ukrainischen "Volkszorns", wie es diese Zeugnisse nahe legen, hatten sich
die Ereignisse nicht entwickelt. Gegen Mittag, nach einer Inspektionsfahrt des Kommandeurs der 1.
Gebirgsdivision General Hubert Lanz, waren in den Straßen Plakate und Flugblätter der deutschen Besatzer
erschienen. Da stand zu lesen, wer für die Morde verantwortlich war: die "jüdischen Bolschewiken". Fast
gleichlautende Plakate eines "Ukrainischen Nationalen Komitees" forderten den Tod der Juden und
Kommunisten und ließen Adolf Hitler und Stephan Bandera hochleben.
Bandera war der Führer einer der beiden rivalisierenden Flügel der ukrainischen Nationalistenorganisation
OUN; seine auf Aktion drängende, scharf antisemitische Gruppe OUN(B) erfreute sich der besonderen
Protektion der deutschen Abwehr. Die Deutschen hatten das Ukrainer-Bataillon, das unter dem Decknamen
"Nachtigall" in deutschen Uniformen und unter dem Befehl von Wehrmachtoffizieren in Lemberg
einmarschiert war, im Winter 1940/41 aufgestellt. Bandera war es wichtig gewesen, dass zuverlässige und
ortskundige Parteigänger das Hauptkontingent bildeten. Er hatte auch seine Leute in der Stadt auf den Tag
der Besetzung vorbereitet: Augenzeugen berichten, dass in den menschenleeren Straßen "plötzlich, wie aus
der Erde gezaubert" Leute mit Abzeichen und blau-gelben Bändern erschienen, "um für sogenannte
Ordnung zu sorgen". Sie besetzten, mit Billigung der Deutschen, die Polizeiposten und übernahmen deren
Funktionen.
Als erste Amtshandlung organisiert die neue Miliz jetzt die Hetzjagd auf die Lemberger Juden. Diese werden
aus ihren Häusern geholt oder von der Straße aufgegriffen, zu Sammelstellen abgeführt und dann zu den
drei Gefängnissen getrieben. Dort müssen sie auf Weisung des Stadtkommandanten die Leichen aus den
Zellen und Massengräbern herausholen und zur Identifizierung im Hof der Gefängnisse niederlegen.
Schon während des Sammelns und Wegtreibens kommt es zu schlimmen Misshandlungen. Die Angriffe
steigern sich zum Terror vor den Gefängnissen: Zivilisten und Bewaffnete stehen Spalier und prügeln mit
Knüppeln und Gewehrkolben auf die Juden ein; Hunderte Menschen werden erschlagen.
Bei diesen Ausschreitungen haben sich deutsche Soldaten - von den bezeugten Übergriffen einzelner
abgesehen - herausgehalten. Aber die Wehrmacht unterbindet die öffentliche Hetzjagd auch nicht: Ein Befehl
verbietet jede Anwendung von Waffengewalt gegen ukrainische Zivilisten und Milizionäre. Der Einsatz der
Deutschen beschränkt sich auf die äußere Sicherung der Gefängnisse und auf die Kontrolle der Abläufe im
Inneren. Dort, im Inneren, spielen sich schreckliche Szenen ab. Während Familienmitglieder nach ihren
Angehörigen suchen, zwingen die ukrainischen Soldaten des Bataillons "Nachtigall" unter dem Befehl
deutscher Offiziere die herbeigeschafften Juden, auf Knien zu den Leichen zu kriechen und sie zu waschen.
Jüdische Frauen und Mädchen werden mit Gejohle entkleidet und dann fotografiert; den alten Männern reißt
man die Barthaare aus.
Höhepunkt der Quälereien ist ein immer wieder eingesetztes Ritual. Eines der Opfer hat es im Verfahren
gegen den Politoffizier des Bataillons "Nachtigall", den ehemaligen Bundesminister Theodor Oberländer,
1960 vor der Staatsanwaltschaft Bonn so geschildert: "Nachdem wir mit dem Bergen der Leichen
fertiggeworden waren, wurden wir im Dauerlauf im Innenhof herumgetrieben [...] Während des Laufens [...]
hörte ich das deutsche Kommando: ,Spießrutenlaufen' oder ,Antreten zum Spießrutenlaufen'. Dieses
Kommando muß meiner Erinnerung nach von einer Gruppe deutscher Wehrmachtsangehöriger gekommen
sein, die etwas abseits der Leichengrube standen und während der ganzen Zeit zuschauten. [...] Es handelte
sich um Offiziere [...] Auf diesen deutschen Befehl hin stellten sich die ukrainischen Soldaten in einem
Spalier auf und pflanzten das Seitengewehr auf. Durch dieses Spalier mußten nun die auf dem Hof
befindlichen Juden hindurchlaufen, wobei die ukrainischen Soldaten auf sie einschlugen und einstachen. [...]
Diese ersten Juden, die durchlaufen mußten, wurden fast sämtlich durch Bajonettstiche getötet."
Am 1. Juli steigert sich der Terror und breitet sich in der ganzen Stadt aus. Ein deutscher Soldat, Lothar-
Günther Hochschulz, kommt an diesem Tag in Lemberg an. Wir zitieren aus seinem Tagebuch, das die
Familie dem Autor freundlicherweise zur Verfügung stellte: "Ich ging zum Haupteingang des Theaters. Eine
große Menschenmenge stand dort, schrie, tobte. - Was war los? Dort lag Stalin - in Gips. Zerschlagen. Und
Juden mußten diese Gipstrümmer fortschaffen. - Eine Jüdin aber wollte nicht. - Man hat sie in wenigen
Minuten splitternackt ausgezogen, sie gepeitscht und sie gezwungen zur Arbeit. - Die Ukrainer schafften sich
Luft."
Hochschulz trifft bei seinem Bummel durch die Stadt auf Juden, die das Trottoir mit bloßen Händen blitzblank
putzen müssen, er begegnet Männern und Frauen, die von prügelnder ukrainischer Miliz irgendwohin
getrieben werden. "Wer sich hinwarf, um nicht weitergehen zu müssen, wurde buchstäblich totgeschlagen,
wie tollwütige Hunde. Hernach kamen Trupps mit Karren, die die erschlagenen Juden auflasen." Von einer
jungen Volksdeutschen wird er zu einem der Gefängnisse geführt und steht schaudernd vor den
Massengräbern. "Ich kehrte um, rannte hinaus, über den Hof, weg, blos weg von hier! Ich fand die Zaunlücke
wieder, da knatterte eine Maschinenpistole. - Zusammengetriebene Juden werden auf dem Hofe
erschossen."
Ein steinernes, eiskaltes Herz Wer das Kommando vor und in den Gefängnissen führte - Offiziere der 1. Gebirgsdivision oder der ihr
unterstellten Einheiten von Feldgendarmerie, Geheimer Feldpolizei, Polizei oder des Bataillons 800 -, ist
nicht mehr genau zu rekonstruieren. Auf Fotos erkennt man Angehörige aller genannten Einheiten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Abschlussmeldung des Bataillons 800. Ihr Kommandeur
Friedrich Wilhelm Heinz, ein ehemaliger Freikorpsmann und bekannter völkischer Schriftsteller der
Zwischenkriegszeit, schiebt die Schuld auf "die eingesetzten Polizeikräfte". Diese hätten durch das "Quälen
und Erschießen wahllos zusammengetriebener Juden, darunter Frauen und Kinder", die Bevölkerung
"aufgestachelt". Heinz, dessen Bericht am 1. Juli verfasst wird und um 14 Uhr beim 49. Korps eingeht, meint
die oben aufgeführten Polizeitrupps der Wehrmacht, nicht die Einsatzgruppe C, auf die man bis heute gerne
die Verantwortung abschiebt.
Diese Einsatzgruppe erreicht Lemberg mit ihrem Hauptkontingent erst im Laufe des 1. und 2. Juli. Ihr Auftrag
lautet, die Umtriebe von Banderas Leuten zu beenden, die eigenmächtig einen ukrainischen Staat
proklamiert hatten. Zunächst mussten die Putschisten in Lemberg verhaftet werden. Öffentlich in
Erscheinung trat die Einsatzgruppe erstmals am 2. Juli mit der Exekution von 100 Juden; am 4. Juli
ermordeten ihre Kommandos, unterstützt von der ukrainischen Miliz, 3000 Juden am Stadtrand. An diesem
Tag war die 1. Gebirgsdivision allerdings schon weiter nach Osten gezogen. Lemberg gehörte jetzt zum
rückwärtigen Armeegebiet, und es gab einen neuen Stadtkommandanten. Immer noch mussten jüdische
Bürger die Leichen aus den Gefängnissen bergen; die öffentliche Judenjagd aber war zu Ende. 4000
Menschen waren ihr zum Opfer gefallen.
Wer dafür die Verantwortung trägt, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht mehr nachweisen. Aber den Kreis
der wahrscheinlich Schuldigen kann man doch eingrenzen. Dazu gehört das Bataillon 800. Diese Einheit war
Teil eines Geheimkommandos, das dem Oberkommando der Wehrmacht direkt unterstand. Besser bekannt
unter dem Namen "Die Brandenburger" wurde es für militärisch gewagte Einsätze im Rücken des Feindes,
aber auch für politisch heikle Aufgaben eingesetzt. Im Falle Lemberg erschöpfte sich diese nicht in der
Sicherung militärisch wichtiger Objekte. Dafür spricht schon die Tatsache, dass dem Kommando mit dem
ukrainischen Bataillon "Nachtigall" ein fanatisch antisemitisches und aus Ortskundigen bestehendes
Hilfskontingent zur Verfügung stand. Es sollen denn auch, Augenzeugen zufolge, Angehörige dieser Truppe
gewesen sein, die, gleich nach dem Einmarsch und noch im Morgengrauen des 30. Juni, die Leichen der
NKWD-Opfer in den Gefängnissen verstümmelt haben.
Auch aus anderen Orten Galiziens sind solche Aktionen von Bandera-Anhängern bezeugt. Zu diesen
grauenvollen Manipulationen an den Toten passt die Tatsache, dass jüdische Opfer des NKWD aus den
Lemberger Gefängnissen fortgeschafft wurden, bevor die Bevölkerung Zutritt erhielt.
Es spricht einiges dafür, dass "Die Brandenburger" den Judenmord ausgelöst haben. Man habe am 30. Juni
"jüdische Plünderer rücksichtslos niedergeschossen", vermerkt der Schlussbericht des Bataillons. Wie als
Bestätigung liest sich die Meldung des Gebirgsjägerregiments 99, es sei am Morgen desselben Tages, also
lange vor Öffnung der Gefängnisse für die Bevölkerung, zu "Erschießungen von Juden durch Ukrainer"
gekommen. Die aktive Rolle des Ukrainer-Bataillons an allen diesen Aktionen ist gut belegt, nicht nur durch
jüdische Zeugen. Ein Bericht der Geheimen Feldpolizei vermerkt, dass die von dort ausgeliehenen
Dolmetscher in einer so "fanatischen Stimmung" gegenüber den Juden gewesen seien, dass sich "die
Grenzen der Verwendbarkeit [...] im Rahmen der militärischen Disziplin" schon am ersten Tag gezeigt hätten.
All dies wurde "von oben" gedeckt, in diesem Fall von der 17. Armee. Das verraten schon die rigorosen
Absperrmaßnahmen bei der Besetzung Lembergs, deren Kontrolle sich die Armee vorbehalten hatte: Außer
den eingesetzten Bataillonen durfte keine andere Einheit die Stadt betreten; Einzelpersonen war der Zutritt
nur mit Sonderausweis erlaubt. Auch innerhalb Lembergs blieb die Bewegung bis zum 1. Juli eingeschränkt:
Stoßtrupps durften nur unter Führung von Offizieren erfolgen, und die eingesetzten Gebirgsjäger mussten in
ihren Standorten verbleiben. Diese Vorkehrungen erwecken den Eindruck, als ob man so habe sicherstellen
wollen, dass der Auftrag der "Brandenburger" und ihrer ukrainischen Helfer ungestört erledigt werden konnte.
Dazu passt eine rätselhafte Äußerung des Befehlshabers der 17. Armee, General Karl-Heinrich von
Stülpnagel. Dieser hatte bei der ihn begleitenden Einsatzgruppe C angeregt, "die in den neu besetzten
Gebieten wohnhaften antijüdisch und antikommunistisch eingestellten Polen zu Selbstreinigungsaktionen zu
benutzen". Stülpnagel wusste, dass SD-Chef Reinhard Heydrich seinen Einsatzgruppen vor Beginn des
Feldzuges solche Aktionen befohlen hatte. Und er war über die Ereignisse in Lemberg nach dem Abzug der
Roten Armee informiert. Vielleicht wollte er die Einsatzgruppe um Unterstützung für eine eigene
"Selbstreinigungsaktion" bitten. Dass er ein Feind der Juden war, ist bekannt. 1944 gehörte er zum engsten
Kreis des militärischen Widerstands.
Die eigentliche Verantwortung in Lemberg selbst trug die 1. Gebirgsdivision unter ihrem Kommandeur Hubert
Lanz, der zwei Jahre später, im Herbst 1943, als Verantwortlicher für die Ermordung von mehr als 4000
italienischen Gefangenen auf der griechischen Insel Kephalonia traurige Berühmtheit erlangen sollte. Die 1.
Gebirgsdivision stellte mit dem Artillerieoffizier Karl Wintergerst auch den Ortskommandanten. Wintergerst,
der später an weiteren Schauplätzen des Judenmords als Stadtkommandant fungierte, so in Winniza, hatte
das Auslegen der Leichen im Innern der Gefängnisse angeordnet.
Offiziell geschah dies zur Identifizierung der Opfer, die eigentlichen Ziele der Besatzer aber sind im Lichte
der Ereignisse offensichtlich. Für den Bielefelder Historiker Thomas Sandkühler bestehen sie in "der
emotionalen Aufheizung der Pogromstimmung". Man brauchte einen Grund, die Juden in die Gefängnisse zu
treiben, und man benötigte eine Bühne, auf der sich der schon vorhandene antisemitische Hass von Teilen
der Bevölkerung steigern und entladen konnte. Für diese Deutung spricht, dass man die Juden in solch
großer Zahl zu den Gefängnisse trieb. Wie einer von ihnen später berichtete, war dadurch "jedes Arbeiten
unmöglich". Zudem wurde die Prozedur gegen den Widerstand des Generalarztes durchgesetzt, der auf den
fortgeschrittenen Verwesungsgrad der Leichen hingewiesen und ihre Identifizierung für unmöglich erklärt
hatte. Aber die Division wollte die Inszenierung - auch für die eigenen Soldaten.
Militärakten und persönliche Zeugnisse verraten, dass Lanz und seine Offiziere von der Schuld oder
zumindest Mitschuld der Juden an den NKDW-Morden überzeugt waren. In zahlreichen Führungen wurde
dieses Urteil später auch allen Angehörigen der Division wie den vielen durchziehenden Truppenteilen
eingehämmert. So nahm Hauptmann Josef Salminger, dessen Bataillon an der Einnahme Lembergs beteiligt
gewesen war, seinen Männer vor den ausgelegten Leichen einen feierlichen Schwur ab: "Jeder Zweifler
möge sich persönlich von diesen unmenschlichen Grausamkeiten überzeugen. Dann erst lernt er die
Notwendigkeit dieses Kampfes gegen die jüdisch-kommunistische Verbrecherbande verstehen und begreift
vollkommen, daß jeder deutsche Soldat, der Blut oder Leben in diesem Entscheidungskampf zwischen
Ordnung und Chaos lassen muß, tausendfach gerächt werden muß. Dies soll der Schwur des III. Bataillons
bis zur völligen Vernichtung und Ausrottung der bolschewistischen Armee sein und bleiben."
Salminger war kein Mann leerer Worte, nicht in Lemberg und nicht andernorts. 1943 als
Regimentskommandeur in Griechenland, ging er persönlich auf Judenjagd, auch war er verantwortlich für
das Massaker an mehr als 300 Männern, Frauen und Kindern im Dorf Kommeno. Seine Männer verehrten
ihn und glaubten an seine beschwörenden Worte. "Man sollte eigentlich noch viel mehr dieser Ausgeburten
an die Wand stellen als bisher geschehen", schrieb ein Angehöriger der Division Anfang Juli 1942 in einem
Feldpostbrief aus Lemberg. "Ausgeburten" meint: Juden.
Mit diesem Feindbild und mit dieser Gewaltbereitschaft zogen die Soldaten der Wehrmacht weiter nach
Osten. Der Krieg wurde dadurch nicht zum Vernichtungskrieg "radikalisiert", wie man auch heute noch lesen
kann, sondern in der von Hitler geplanten Form akzeptiert. Durch die "Erfahrungen" in Lemberg und anderen
galizischen Orten wuchs die Bereitschaft der Truppe, der Propaganda der Wehrmachtführung vom Juden als
Hauptfeind Glauben zu schenken und die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden, die sich von
Mitte Juli 1941 an in den rückwärtigen Gebieten der besetzten Ukraine entwickelte, gutzuheißen und, wo es
befohlen wurde, daran mitzuwirken.
Auch für Lothar-Günther Hochschulz wurde Lemberg zur Schule der Gewalt. Als er bei seiner Ankunft die
Quälereien und Erschießungen von Juden sah, hatte er noch geschrieben: "Mich schauderte. - Ich durfte
nicht eingreifen. Ich war Soldat, mich ging es nichts an." Einen Tag später, im galizischen Bobrka erlebt er,
wie eine fünfköpfige jüdische Familie erschlagen wird. "Ich habe niemals zuvor so tierische Todesschreie
gehört. Seltsam! - Es erregte mich nicht einmal mehr. [...] In meinem Quartier traf ich mit einer polnischen
Lehrerin zusammen, sie sprach deutsch. [...] Wir hatten uns unterhalten über die Juden, über die
Ermordeten, über alles. Ich vertrat meine Meinung, daß alle Juden einfach totgeschlagen werden müßten.
Nichts kann mich mehr davon abbringen, nachdem, was ich erlebt und gesehen habe ... Da meinte sie: ,Sie
haben wunderschöne Augen, aber ein steinernes, eiskaltes Herz!' - Und sie wird Recht gehabt haben." (Quelle: Zeit online 20.06.2001)
Eines der Gefängnisse in Lviv, in denen sich das grausige Geschehen zutrug, wurde im Jahre 2010 als Gedenkstätte eröffnet. Das Gebäude wurde, nachdem sich die Rote Armee zurück gezogen hatte, von der Gestapo, anschließend wieder vom NKWD genutzt und ist innen in seiner Originalausstattung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten.
(Abbn. v.o.n.u.: Opfer des NKWD-Massakers von 1941, Außenansicht des Gefängnisses [Hofseite], Blick in eine Einzelzelle, Durchgang zum Hinrichtungstrakt)
Der Opfer des NKWD-Massakers von 1941 konnte erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine öffentlich gedacht werden. 1997 wurde ein Denkmal für die Kämpfer der UPA und die Opfer des NKWD in der Stepan-Bandera-Straße in Lviv errichtet (Bild oben). Auf dem Yanivsky Friedhof der Stadt wurde ein Ehrenhain angelegt, der an die ukrainischen Opfer erinnert.
Für die Opfer des Juni-Pogroms von 1941 an der jüdischen Bevölkerung und die in diesen Tagen ebenfalls ermordeten 50 polnischen Professoren haben wir keine Gedenkstätten gefunden.