Der polnisch-ukrainische Konflikt und die "Aktion Weichsel"
Mit den Ereignissen in den ersten Kriegsjahren – von den Grausamkeiten des NKWD gegenüber
politischen Gefangenen über die Vernichtung Hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener und
die Ermordung großer Teile der jüdischen Bevölkerung durch die deutsche Besatzungsmacht, bis zu
der massenhaften Verschleppung zur Zwangsarbeit und den zahllosen Morden an der slawischen
Bevölkerung, war ein dramatischer Verfall jeder gesellschaftlichen Moral eingetreten, der den Weg
für alle Arten willkürlicher Verbrechen bahnte. Zudem mangelte es in den besetzten Gebieten an
zivilen Ordnungskräften und -strukturen.
Auf dem Gelände des Franziskanerklosters in Horodok wurden 1998 die Gebeine von 41
Kindern und Jugendlichen gefunden, die an unterschiedlichen Orten verscharrt waren.
Gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass die Opfer in der Zeit zwischen 1945 und
1950 erschossen wurden. Die Toten wurden inzwischen würdevoll am Rande des städtischen
Friedhofes bestattet.
Die brutalen Formen der deutschen Okkupation, insbesondere die im Frühjahr 1942 verstärkt
einsetzende Massendeportation von Zwangsarbeitern nach Deutschland führte zu einer Massenflucht
vor allem junger Menschen in die Wälder und zur Verstärkung bestehender bzw. der Entstehung
neuer Partisanengruppen.
Ende 1942 formierten sich in Wolhynien die ersten Einheiten der Ukrainischen Aufstandsarmee unter
der Führung von Stepan Bandera, die im Frühjahr des nächsten Jahres von den “Bulbiwci”
(ukrainische nationalistische Kampfgruppen unter der Führung von Taras Bulba-Borovec) den
Namen UPA und die meisten Waldgruppen übernahmen. Zur gleichen Zeit desertierte ungefähr die
Hälfte der ukrainischen Schutzmänner von der deutschen Besatzungsmacht, ging auf Befehl der
OUN in den Wald und bildete den Keim der Streitkräfte des „Ukrainischen Unabhängigen Vereinten
Staates“ (USSD), den Bandera im Juni 1941 ausgerufen hatte. Bald wurde die UPA nach der
deutschen die zweitgrößte Armee in Wolhynien. Die Bandera-OUN rief nun zum Kampf sowohl gegen
die Deutschen als auch gegen die Sowjets auf. Außerdem hielt sie – manchmal zu Recht – die
polnischen Partisanen für Verbündete der Sowjetunion. In der Praxis waren die Hauptgegner der UPA
die sowjetischen Partisanen, der zweitwichtigste Feind war die polnische Gemeinschaft.
Gleichzeitig entstand eine große Zahl von “wilden” Einheiten, die niemandem unterstanden und
kaum von Räuberbanden zu unterscheiden waren. Gegen sie kämpften wiederum alle “regulären”
Partisanen, was deren Grausamkeit verstärkte, denn verfolgt von allen gerieten die “Wilden” in die
schlimmste Situation. Zudem versteckten sich in den Wäldern unterschiedliche Banden, Deserteure
verschiedener Armeen, sowie die zur Verzweiflung getriebenen, zu allem bereiten Gruppen von
Flüchtlingen. Sie alle lebten auf Kosten der Dörfer, bei Widerstand raubten sie, vergewaltigten und
mordeten. Und sie alle nannten sich “Armeen”, und der eingeschüchterte Bauer, ob polnisch oder
ukrainisch, war nicht imstande, Partisanen von Banditen zu unterscheiden.
Vor diesem Hintergrund begann im März 1943 die “Entpolonisierung”, d.h. die Ermordung und
Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus Wolhynien und Ostgalizien. Im Gegenzug gab es
zahlreiche polnische Übergriffe auf die ukrainische Bevölkerung. Beteiligt waren
Die UPA: Die ukrainische politische Führung rechnete für die Nachkriegszeit damit, dass
der politische und militärische Kampf zwischen Polen und Ukrainern um den Staat und
um die Grenzen wieder aufleben würde. Die ukrainische Führung wollte vollendete
Tatsachen schaffen: keine polnische Bevölkerung und keine polnischen Militäraktivitäten
auf den umstrittenen Territorien.
Ukrainische Schutzmannschaften: Sie waren im Reichskommissariat Ukraine die
offizielle, aus Ukrainern bestehende Hilfspolizei der deutschen Besatzer und
unterstanden der SS. Unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung führten sie sog.
Pazifizierungen von Dörfern (sowohl polnischer als auch ukrainischer) durch, die z.T.
äußerst blutig verliefen.
Dorfbevölkerung: Es gab eine große Verführung, die militärische Verwirrung zu benutzen,
um mit Nachbarn oder Verwandten abzurechnen (Konflikte gab es nicht selten zwischen
Vertretern verschiedener Nationalitäten). Einfache Menschen kamen mit Mistgabeln,
Sensen und Äxten und hatten ihr Gewissen womöglich mit Wodka betäubt. Gerade sie
verübten damals oft die schrecklichsten Gräueltaten, die sich tief in das polnische
kollektive Bewusstsein eingeprägt haben. Solche Morde wurden dann oft irrtümlich als
“politischer Terror” qualifiziert.
Banden, Deserteure und Flüchtlinge: Sie kämpften in den Wäldern um ihr Überleben und
marodierten in den Dörfern ebenfalls häufig unter brutaler Gewaltanwendung.
Polnische “Zentren für Selbstverteidigung”: In einigen Ortschaften Wolhyniens
entstanden sogenannte “Zentren für Selbstverteidigung”, wo sich die polnische
Bevölkerung sammelte. Häufig tolerierten die Deutschen das, manchmal halfen sie sogar,
aber es kam auch vor, dass sie die Waffen beschlagnahmten und die Anführer
verhafteten. Die polnischen Selbstverteidigungsgruppen schlugen mit Präventivaktionen
zu. Sie verbrannten ukrainische Dörfer, die in der Nähe der Selbstverteidigungsgruppen
lagen, oder solche, die sie als “nationalistische Nester” definierten. Zweifellos kam es
dabei auch zu Morden an der Zivilbevölkerung.
Die Armia Krajowa (AK), der die Selbstverteidigungsgruppen unterstanden,
die deutsche Besatzungsmacht, die unmittelbare Provokationen inszenierte, indem sie
sich als polnische oder ukrainische Partisanen ausgaben,
sowjetische Partisanen die einerseits in ihrem Kampf gegen die UPA ukrainische Dörfer
zerstörten, andererseits häufig lokale Organisationen der OUN infiltrierten und dann
besonders heftig für den Mord an Polen agitierten,
sowjetische Truppen, die sich als UPA ausgaben und besonders brutal gegen die
polnische Bevölkerung vorgingen, weil sie hofften, dass dann später die Rote Armee als
Befreier vom UPA-Terror auftreten könnte,
Bataillone der „Blauen Polizei“, die im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht durch
zahlreiche Grausamkeiten an der ukrainischen Bevölkerung
den Eindruck der „polnischen Rache“ verstärken sollten.
Die Zahl der Opfer ist strittig und es gibt offenbar auch keine Möglichkeit, hier genaue Zahlen
festzustellen. Sie schwanken zwischen 100.000 und 600.000. Die meisten der seriösen
Einschätzungen nennen um die 100.000 gefallene und ermordete Polen, die nicht die Opfer des
deutschen Terrors waren. Dabei wird allerdings die Zeit der sowjetischen Besatzung nicht
berücksichtigt.
Auf ukrainischer Seite wird von etwa 2.000 Opfern gesprochen, die im Laufe der Vergeltungsaktionen
von der AK getötet wurden, sowie mehreren hundert Gefallenen in den Kämpfen zwischen der AK
und der UPA in Wolhynien. Wahrscheinlich sind die ukrainischen Verluste wesentlich höher, aber
geringer als die polnischen.
Die Verantwortung für den Terror lasten einige Historiker vor allem der politischen Führung der
ukrainischen Nationalisten, genauer gesagt, der Bandera-OUN, an. Große Verantwortung tragen auch
die Deutschen, nicht nur, weil sie als Besatzungsmacht für die Sicherheit auf diesen Territorien
verantwortlich waren und weil sie die verbrecherische Tätigkeit der Schutzmannschaften förderten,
sondern auch, weil sie immer wieder unmittelbare Provokationen inszenierten, indem sie sich als
polnische oder ukrainische Partisanen ausgaben.
Polnische Autoren qualifizieren ziemlich einstimmig die antipolnische Aktion der UPA als
Völkermord. Innerhalb der Ukraine ist die Verantwortung der OUN/UPA für die Massaker der
„Entpolonisierung“ heftig umstritten. Die politischen Nachfolger der OUN/UPA dementieren sie bis
heute. Im April 2010 wurde im „Ukrainischen Haus“ in Kiev die Fotoausstellung „Das
Wolhynienmassaker: polnische und jüdische Opfer OUN-UPA“ eröffnet. Die Veranstaltung endete in
einer Massenschlägerei zwischen Befürwortern und Gegnern der Ausstellung, in deren Ergebnis
Milizionäre 15 Personen festnahmen.
Es ist nach unserem Wissen nicht klar, ob und wann die Führung der Bandera-UPA die Entscheidung
über die “Entpolonisierung” Wolhyniens traf. Eine entsprechende UPA-Direktive ist bis jetzt nicht
publiziert worden, es gibt offenbar auch keine Beweise für ihre Existenz. Auf der einen Seite legt die
Art der Durchführung der Aktion die Auffassung nahe, dass sie das Ergebnis planvollen Vorgehens
seitens der OUN/UPA gewesen ist. Auf der anderen Seite macht die Vielzahl der täterschaftlich
beteiligten Gruppierungen eine stichhaltige und genaue Analyse des Gesamtgeschehens
wahrscheinlich unmöglich.
In der Ukraine sind die Kämpfer der OUN/UPA heute weitgehend rehabilitiert - zu Sowjetzeiten galten
sie als Kollaborateure Hitler-Deutschlands und als Komplizen des nationalsozialistischen
Völkermords. Die ukrainische Widerstandsarmee UPA unter Stepan Bandera wird heute als
patriotische Bewegung dargestellt, die einen Zweifrontenkrieg gegen deutschen Nationalsozialismus
und sowjetischen Stalinismus geführt habe.
In den letzten Jahren wurden in der Westukraine zahlreiche Denkmäler in Würdigung der Kämpfer
der UPA errichtet. Dabei wird ausschließlich auf den Kampf für nationale Freiheit und Unabhängigkeit
der Ukraine gegen die Sowjetunion Bezug genommen.
(Abb.: zeitgenössisches Pressefoto eines UPA-Kämpfers während eines Veteranenaufmarsches)
In Wolodymyr-Wolhynskij wurde ein Denkmal für die zwischen 1942 und 1950 gefallenen oder
ermordeten Kämpfer der UPA aus der Stadt und dem Rayon errichtet. Dem Denkmal
gegenüber steht das Gebäude, in dem während des Zweiten Weltkrieges der NKWD, dann die
Gestapo, dann wieder der NKWD ihren Sitz hatten. Heute arbeitet hier ein privates
Sicherheitsunternehmen (Bild unten).
Auf dem Friedhof in Horodok befinden sich die Gräber von drei getöteten UPA-Kämpfern, die
1945 in den Wäldern um Horodok im Rahmen einer organisierten Untergrundbewegung gegen
die sowjetische Besatzung kämpften. Sie wurden an den NKWD verraten und starben in einem
heftigen Schusswechsel. Das Denkmal über ihren Grabstätten wurde aus Spenden der
Bevölkerung von Horodok im Jahre 2008 errichtet.
Am Eingang zum Friedhof in Horodok wurde eine Gedenktafel mit den Namen der UPA-Kämpfer
angebracht, die aus dem Rayon Horodok stammen und entweder nach ihrer Verhaftung durch
den NKWD oder ohne Informationen über ihr Schicksal verschwunden sind. Die 46 Namen
wurden in Archiven zusammen gestellt.
In Lviv wurde vor einigen Jahren vor dem Lytschakiv-Friedhof ein Denkmal errichtet, das an
den Kampf der UPA für eine unabhängige Ukraine erinnert.
In Brody wurde 1993 auf dem zentralen Platz der Stadt ein Denkmal eingeweiht, das den
Opfern der kommunistischen Repressalien gewidmet ist. Es hat die Grundform eines Kreuzes.
Auf einer Seite ist eine leidende, gefolterte Familie dargestellt, auf der anderen Seite
symbolisiert der heilige Georg als Schutzheiliger Galiziens den Sieg über die Tyrannei. Die
Inschrift lautet: „Für die Ukraine, für ihre Freiheit“. Der Granitsockel am Fuße des Denkmals
verzeichnet die Orte, an denen Einwohner von Brody und Umgebung in sowjetischer Zeit
Haftstrafen oder Deportationen erlitten. In den Sockel sind Gefäße eingelassen, in denen Erde
aus diesen Orten aufbewahrt wird.
Ebenfalls in Brody erinnert ein Denkmal an Petro Fedun-Poltawa. Er stammte aus dem Dorf
Schnyriv im Rayon Brody und war Oberst und einer der ideologisch führenden Köpfe der UPA.
1951 wurde Fedun-Poltawa in Iwano-Frankiwsk im Kampf gegen den NKWD getötet. Das
Denkmal trägt die Inschrift „Freiheit für die Völker, Freiheit für den Menschen“.
In Dubno erinnert ein Gedenkstein an drei UPA-Kämpfer aus dem Dorfe Ratchyn im Dubenskyj
Rayon, die am 3. Januar 1945 im Auftrag des NKWD an dieser Stelle erhängt wurden. Das
Denkmal trägt die Aufschrift „Ewiger Ruhm den Helden, die ihr Leben im bewaffneten Kampf für
die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine geopfert haben!“
In Rivne wurde im Jahre 2002 ein Denkmal errichtet, das dem 60. Jahrestag der UPA, der
Ukrainischen Widerstandsarmee gewidmet ist. Die Inschrift erinnert an den „UPA Oberst Klym
Savur und Tausende ukrainische Patrioten“, die im angrenzenden Gefängnis in Rivne ermordet
worden sind. Klym Savur (eigentl. Dmytro Klyachkivsky) war ein Oberst der UPA und erster
Kommandeur der UPA-Nord. Er war nach der Ansicht polnischer und amerikanischer
Historikern verantwortlich für die ethnische Säuberung von Polen aus Wolhynien.
Das Gefängnis in Rivne wurde in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts sechs Jahre lang
vom sowjetischen NKWD, vier Jahre von der deutschen Wehrmacht und der Gestapo genutzt.
Über tausend Opfer wurden in dieser Zeit hier hingerichtet. Das Gebäude wurde nach dem
Krieg als Fabrik genutzt und steht heute leer. Eine Gedenktafel an der Fassade weist auf die
Ereignisse in der Zeit als Haftanstalt hin.
Ein Gedenkstein vor dem ehemaligen Gefängnis in Rivne erinnert an die ukrainischen Zivilisten,
die 1944 und 1945 unter den faschistischen und den sowjetischen Besatzern ermordet worden
sind. Es handelt sich nicht um ein Massengrab, sondern einen Erinnerungsort.
In Polen wird die Erinnerung an die Opfer der „Entpolonisierung“ in Wolhynien, Ostgalizien und
dem Südosten Polens. wachgehalten und die OUN/UPA für die Massaker verantwortlich
gemacht. In Przemyśl wurde z.B. im Jahre 2003 – anlässlich des 60. Jahrestages des Beginns
der Mordaktionen – ein Denkmal für die Opfer der „Entpolonisierung“ errichtet. Es wurde von
Verwandten der damaligen Opfer gestiftet.
Für die Aufarbeitung und öffentliche Darstellung der polnisch-ukrainischen Konflikte in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind letztlich erst seit der politischen Wende in Mittel- und
Osteuropa die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben und viele Themen und Fragen
werden bis heute kontrovers beantwortet. Zwei außerhalb des Projektraumes liegende
Ortschaften symbolisieren jedoch das gegenseitige Bemühen um Verständigung und
Aussöhnung.
Huta Pieniacka ist ein Dorf in der heutigen Ukraine, das vor 1945 von Polen bewohnt war. Bei
einem Massaker am 28. Februar 1944 wurden alle Bewohner ermordet und das gesamte Dorf
niedergebrannt.
Die Warschauer Abteilung des polnischen Instituts für Nationales Gedenken (IPN) begann im
November 1992 mit den Untersuchungen. Bei den Ermittlungen wurde herausgefunden, dass
Einheiten der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS zusammen mit ukrainischen Einheiten das
Massaker verübt haben.
Am 28. Februar 1989 wurde eine Gedenkstätte für die Opfer in der zerstörten Ortschaft
errichtet, die kurze Zeit später von Unbekannten geschändet wurde. Ein neues Denkmal für die
Opfer entstand im Jahr 2005.
Im heutigen Polen liegt das Dorf Pawlokoma nahe der Grenzstadt Przemyśl. Es ist ebenfalls ein
Symbol für das Bemühen um gegenseitige Annäherung bei der Auseinandersetzung mit dem
polnisch-ukrainischen Konflikt In Pawlokoma wurden am 3. März 1945 hunderte Ukrainer von
verschiedenen polnischen Kampfgruppen getötet. Die Gräber dienten noch vor zehn Jahren
den polnischen Einwohnern des Dorfes als Müllhalde. Vor einigen Jahren haben die damaligen
Präsidenten der Ukraine und Polens, Viktor Juschtschenko und Lech Kaczynski, dort eine
Gedenkstätte für die getöteten Ukrainer eingeweiht.
Am 8. Mai 1945 endete mit der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands der Zweite Weltkrieg.
Die Ukraine, einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs, war im Jahre 1945 weitgehend
zerstört. Nur 19% der Industrieanlagen waren noch intakt, die Industrieproduktion war auf etwa ein
Viertel des Vorkriegsstandes gesunken. Die meisten Städte lagen in Trümmern. Die Bevölkerung der
Ukraine hatte erneut gewaltige Verluste erlitten, die Schätzungen bewegen sich zwischen 5 und 7
Millionen. Im Ganzen waren in der Ukraine zwischen 1930 und 1944 zwischen 10 und 15 Millionen
Menschen durch Terror, Hungersnot und Krieg ums Leben gekommen.
(Foto: Kriegszerstörungen in Rivne)
Auf den Konferenzen der Anti-Hitler-Koalition in Teheran (November/ Dezember 1943) und Jalta
(Februar 1945) und schließlich in Potsdam (Juli/ August 1945) wurde die Nachkriegsordnung in
Europa verhandelt. Die Gründung einer unabhängigen bürgerlichen Ukraine, wie sie die OUN und die
UPA anstrebten, war im Rahmen der von den Alliierten getroffenen Vereinbarungen kein Thema. Die
neue Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen orientierte sich an der Curzon-Linie von 1919 und
sprach die gesamte Ukraine der Sowjetunion zu. Das schloss die Umsiedlung von Polen aus den
Gebieten östlich der Curzon-Linie und von Ukrainern westlich der Linie ein. Die Betroffenen sollten
vor die Wahl gestellt werden, entweder eine andere Staatsangehörigkeit anzunehmen oder
aussiedeln zu müssen.
Bereits im Juli 1944 hatte sich aus Mitgliedern des "Verbandes polnischer Patrioten" und des
"Landesnationalrates" das "Polnische Komitee der Nationalen Befreiung" (PKWN, "Lubliner
Komitee") als zukünftige pro-sowjetische polnische Regierung gebildet. Die auf westlichen Druck hin
stattfindenden Verhandlungen zwischen „Londoner“ und „Lubliner“ Regierung führten zu keinem
Ergebnis. Die polnische Exilregierung in London wurde letztendlich als illegal bezeichnet.
Im September 1944 schloss das Lubliner Komitee mit der weißrussischen, der ukrainischen und der
litauischen Sowjetrepublik "Evakuierungsverträge", in denen es die Abtrennung der polnischen
Ostgebiete und die beabsichtigte Umsiedlung der nunmehr nationalen Minderheiten aus den jeweils
anderen Staatsgebieten anerkannte.
Am 1. Januar 1945 proklamierte sich das Lubliner Komitee zur provisorischen Regierung und zog
noch im gleichen Monat in die Ruinen des zerstörten Warschau um. Am 16. August 1945 kam es zu
einem Grenzvertrag zwischen der Sowjetunion und Polen.
Der polnische Staat wollte die ukrainische Frage durch eine vollständige Umsiedlung der Ukrainer
lösen, wie es auch die Vereinbarung mit der Regierung der UdSSR vorsah. Die Freiwilligkeit dieser
Umsiedlungen wurde mehr schlecht als recht eingehalten, und das auch nur im Anfangsstadium, als
von insgesamt ca. 600.000 Ukrainern etwa 150.000 Menschen in die Sowjetukraine übersiedelten. Im
Sommer 1945 begann dann die Zwangsumsiedlung unter Einsatz der Armee. Andere Zahlen besagen,
dass zwischen 1945 und 1946 etwa 482.000 Ukrainer Polen verlassen haben. 1947 beseitigte der
polnische Staat die letzten Reste einer ukrainischen Besiedlung an seinen östlichen und
südöstlichen Grenzen. In der "Aktion Weichsel" wurden rund 200.000 Ukrainer in die neuen
polnischen Westgebiete entlang von Oder und Neiße zwangsumgesiedelt und dort weiträumig
verstreut neu angesiedelt.
In Rivne wurde ein Denkmal zum 60. Jahrestag der Deportation der ukrainischen Einwohner
Polens errichtet. Es erinnert an die Zwangsumsiedlungen der Ukrainer aus Cholmschyna,
Pidljaschja, Nadsjannja und Lemkivschina nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen
1944 und 1946.
1947 wurde die letzte polnische Schule in Rivne geschlossen. Einige Unterlagen werden noch
im Museum für Regionalgeschichte in Rivne aufbewahrt. Darunter diese Kinderzeichnungen.
Die etwa 9-jährigen Kinder hatten die Aufgabe, ihre Erinnerungen an den Krieg zu malen.
Fazit
Unsere Ausgangsthese hat sich bestätigt: Zu keiner Zeit fanden in Europa so viele politisch verursachte
(Zwangs-)Migrationen zeitlich und räumlich verdichtet statt, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auf
dem Gebiet im heutigen Grenzbereich zwischen Polen und der Ukraine, den historischen Kulturlandschaften
Galizien und Wolhynien.
Das Ausmaß der konkreten Ereignisse und der Spuren der Erinnerung im öffentlichen Raum haben wir zu
Beginn des Projektes nicht vorher gesehen. Für eine räumliche Ausdehnung von etwa 500 km und einen
Zeitraum von etwa 30 Jahren konnten wir Vollständigkeit nicht erzielen. Als erschwerend hat sich erwiesen,
dass die Wissenschaft in Westeuropa zur Erhellung der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in
Mittel- und Osteuropa bisher nur wenig beigetragen hat. Im Westen wurden der Holodomor, der polnisch-
ukrainische Konflikt und die Zwangsumsiedlungen von Polen und Ukrainern nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs nur am Rande wahrgenommen, obwohl sie nicht im Geheimen durchgeführt wurden.
In Bezug auf die Art der öffentlichen Erinnerungskultur ist offenkundig, dass diese in einem hohen Maße von
jeweils herrschenden politischen Interessen beeinflusst ist. Die Täter sind dann Helden, wenn sie auf der
Seite der jeweils aktuellen Sieger gehandelt haben, die Opfer sind dann Opfer, wenn sie auf Seiten der
Sieger gestanden haben. Das ist keine spezifisch galizisch/ wolhynische oder ukrainisch/ polnische
Eigentümlichkeit, sondern gilt wohl überall in Europa. Insbesondere für die heutige Ukraine ist jedoch
signifikant, dass die Erinnerungskulturen unterschiedlicher Systeme nebeneinander existieren. Das ist aus
unserer Sicht ein einmaliger Wert.
Wir haben aber auch den Eindruck, dass hier zukünftig noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist. Das Ende
des Kalten Krieges, die Demokratisierung der mittel- und osteuropäischen Länder, die Existenz eines
unabhängigen ukrainischen Nationalstaates und die Öffnung sowjetischer Archive bieten hierfür notwendige
Voraussetzungen. So waren z.B. in der Zeit des Kalten Krieges die Angehörigen und Sympathisanten der
OUN/UPA für den Westen heldenhafte Freiheitskämpfer, für die Sowjetunion gefährliche Verbrecher. Beide
Sichten sind auf Dauer vermutlich nicht tragfähig.
Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Darstellungen und Zahlenangaben zu historischen Ereignissen.
Zahlenangaben wird in der Literatur oft nach Sympathie vertraut. Sie stammen aus Wehrmachtsangaben,
polnischen oder sowjetischen Statistiken und weichen oft dramatisch voneinander ab. Ihre Verwendung ist
bis heute in der Regel ideologisch instrumentalisiert. Viele Angaben werden nie mehr nachvollziehbar sein.
Die Toten des Holodomor hat niemand gezählt.
Dabei zeigt sich, die Erinnerungslandschaft im historischen Galizien und Wolhynien spiegelt nicht in erster
Linie regionale Konflikte, die sich in das Puzzle einer Leidensgeschichte des alten Europa einfügen. Hier
haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert für die Geschichte und die gegenwärtige Befindlichkeit des
Kontinents entscheidende Ereignisse stattgefunden, an denen alle europäischen Großmächte maßgeblich
beteiligt waren.
Also sollten weiter führende Untersuchungen und Analysen als europäische Projekte konzipiert werden.
Auch, weil für ein europäisches Selbstverständnis wichtige und signifikante Geschehnisse drohen, in den
nächsten Jahrzehnten in Vergessenheit zu geraten.
Der deutsche „Dichterfürst“ J.W.v.Goethe lässt im „Faust – Der Tragödie erster Teil“, in der Szene „Vor dem
Tor“ einen „Andren Bürger“ sagen:
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.
In diesem Falle wollen wir ihm keinen Glauben schenken.